Tee & Poesie

Alle Dinge sind im Herzen

In der Stille, am offenen Fenster,
Sitze ich in formeller Meditation, trage mein Mönchsobergewand.
Nabel und Nase in einer Linie, Ohren parallel zu den Schultern.
Mondlicht durchflutet den Raum; der Regen hat aufgehört
Aber vom Dachvorsprung tropft es und tropft.
Vollkommen dieser Augenblick-
In der unermeßlichen Leere vertieft sich mein Verstehen.

(Aus dem Buch: "Alle Dinge sind im Herzen" von Meister Ryôkan)
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Traumtiere

Sie tun alles in größter Eile.
Oder vertun die Zeit.
Beobachten das langsame Vergehen der Steine.
Sie leben ohne Übersicht, obwohl sie die Übersicht besonders lieben.
Sie glauben, ein Geheimnis für sich zu behalten, und geben alles preis.
Um sich selbst zu verstehen, verlieren sie sich in einem anderen Gesicht,
obwohl sie mißtraurisch geworden sind, durch Fehlschläge.
Sie spielen auf zwei Waagschalen, denen sie die Namen Himmel und Hölle gegeben haben.
Sie scheinen frei und sind verstrickt.
Wenn eines stirbt, staunen sie sehr über die Wirklichkeit, die von ihm gelebt wurde.

(Aus dem Buch: "Gesammelte Gedicht von " Walter Helmut FRITZ ")
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Tausend Meilen – der selbe Wind

Ein einziger Pfad zwischen zehntausend Bäumen,
Ein nebelverhülltes Tal zwischen zehntausend Gipfeln.
Noch nicht Herbst, doch die Blätter fallen schon;

Nicht viel Regen, doch die Felsen dunkeln nach.
Mit meinem Korb suche ich nach Pilzen;
Mit meinem Eimer schöpfe ich reines Quellwasser.

Solange du dich nicht freigemacht hast
von jeglicher Absicht.
Solange wirst Du niemals dorthin gelangen

(Aus dem Buch " Alle Dinge sind im Herzen von Meister Ryôkan)
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Zerreißproben

Erde behütet und Erde beschwert,
Wasser ertränkt, Wasserstoff nährt,
Luft ist das Nicht und ein All.
Schwankend zwischen den Gegensätzen
lernten wir die haltlosen Frühlinge schätzen -
Ewigen Sommer gab´s nur vor dem Fall.

Die zwei Waagschalen Pech oder Glück
kontrolliert weiß Gott welche Hand.
Noahs Taube kam nie zurück,
denn sie fand kein trockenes Land -
Das Zeug, aus dem die Träume sind,
hält eher stand.

(Gedichte von Ruth Klüger, aus dem Buch "Zerreißproben")
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Wie eine Stunde

Wie eine Stunde
die Zeit einreißt,
Wege und Pläne umdreht!
als ließe die Zeit es zu,
uns nicht zu vernichten.

Kommen und gehen
verwirren uns, wir stehen,
die Wolken stehen mit uns,
das Dauern ist unsere Zeit,
die Weglosigkeit das Glück.

(Aus dem Buch "Es gibt den ungeheuren Anderen" von Afred Kolleritsch)
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Wegweiser

Am Kreuzweg fragte er die Sphinx:
Geh ich nach rechts, geh ich nach links?
Sie lächelte: "Du wählst die Bahn,
Die dir bestimmt ward in dem Plan.
Links braust der Sturm, rechts heult der Wind:
Du findest heim ins Labyrinth."

(Aus dem Buch: "Mein Lied geht weiter" von Mascha Kaléko")
Torilgang- japan